Auf den Rücken von Mulis

Hüttenversorgung in den Seealpen

Published on 2022-01-24

Corona brachte Änderungen im Bergtourismus. In den Seealpen wurde eine flexible Versorgung gesucht, um auf Schutzhütten rasch und optimal auf unsichere Besucherzahlen und geänderte Ansprüche reagieren zu können. Sie sollte wirtschaftlich und klimafreundlich sein. Man fand keine High-Tech, sondern eine in unseren Alpen fast vergessene, über Jahrtausende erprobte Technologie: sanfte Tragtiere. In der herbstlichen Nachmittagssonne lehnt sich Luciano Ellena zurück und genießt den Blick in die Nord-Ostwand der Monte Argentera, dem höchsten Berg der Seealpen. Sein Kopf schmiegt sich an Kettys Wange, deren riesiger Schädel sanft auf seiner Schulter ruht. Seine Hand krault dabei den Haarschopf ihrer mächtigen Stirn zwischen langen Ohren. In wohliger Entspannung lässt sie schlapp ihre Unterlippe hängen. „Ben fatto, ragazza!“ – Luciano nimmt eine Apfelspalte seiner Macedonia und schiebt sie zwischen ihre weichen Lippen. Das Dessert ist der fruchtige Abschluss eines fünfgängigen Menüs. Luciano sitzt mit seiner Freundin nicht in einem Haubenlokal, sondern auf der Terrasse der Rifugio Morelli Buzzi, einer Schutzhütte des CAI auf 2.344 Meter, hoch über der Therme Valdieri im Gesso Tal in der Provinz Cuneo im Piemont. Auch auf allen anderen Schutzhütten der Seealpen, die sonst nur mit Hubschrauber versorgt werden, konnte man heuer in vollen Zügen die Tradition der raffinierten Küche Piemonts genießen. Ketty hat sich wieder zu Dea und Kira, ihren Arbeitskolleginnen, und den Bergkräutern neben der Hütte zurückgezogen. Sie ist eine kräftige Kaltblut–Mulidame. Neben ihren 5 Artgenossinnen ist sie die Stärkste in Lucianos Team, das an einem bemerkenswerten Hütten-Versorgungsprojekt teilnimmt. Im Frühjahr 2020 hielt Corona Italien im engen Clinch. Bei allen Hüttenwirten herrschte große Unsicherheit: Wird man aufsperren können? Wie wird sich die Saison entwickeln? Wie viel Vorräte soll der Hubschrauber hochfliegen? In dieser Situation sprang der Naturpark Seealpen in die Bresche. Ein Beitrag für den Klimaschutz Schon 2019 war Luciano von Marco Giraudo - zusammen mit seinem Bruder Paolo Pächter der Morelli Buzzi Hütte - gefragt worden, ob er nach der Erstbelieferung durch den Hubschrauber einmal wöchentlich mit seinen Mulis frische Lebensmittel zur Hütte bringen könne. Marco, ein begeisterter Höhlenforscher, und Paolo, ein umweltbewusster Musikinstrumentenbauer, wollten mit einem kleinen Beitrag zum Klimaschutz die Hubschrauber-Versorgungsflüge reduzieren. Luciano, der schon in den Jahren davor fallweise Schutzhütten der Seealpen, der Cottischen Alpen und im Aosta-Tal mit seinen Mulis versorgt hatte, war sofort dabei. Als der Naturpark im Rahmen des Interreg-Projektes CClimaTT einen Wettbewerb nach dem Motto „Das Klima ändert sich, ändern wir uns doch auch!“ ausschrieb, gewann ihn diese Hüttenversorgung „auf den Rücken von Mulis“. Eine Bedingung war, mit der Gewinnsumme einen Dokumentarfilm zu drehen. Dieser sollte zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Klimawandel zeigen, dass man auch in unserer modernen Zeit mit einer altbewährten, umweltfreundlichen Technologie hochgelegene Schutzhütten mit Frischwaren und anderem Material vorteilhaft versorgen kann. So entstand „A Dorso di Mulo“ der jungen Filmemacherin Elena Gagliano. Bei Filmabenden und Diskussionsrunden versuchten Marco, Paolo und Luciano zusammen mit dem Naturpark, über ihre positiven Erfahrungen zu informieren und vor allem andere Hüttenwirte ihrer Region zu motivieren, auch bei ihren Hütten Tragtiere einzusetzen. Corona brachte dieser Veranstaltungsreihe leider ein vorzeitiges, abruptes Ende. Belieferung mit frischen Lebensmitteln Diese Erfahrungen griff der Naturpark nun auf und bot allen Hütten, die im Park mit Hubschrauber versorgt werden, an, über Interreg Fördermittel des Alcotra-Piter-Clima Projektes eine Tragtier-Belieferung zu finanzieren. Diese sollte den Hüttenwirten eine flexiblere Bevorratung ihrer Hütten ermöglichen. 7 Schutzhütten (Bianco, Bozano, Soria- Ellena, Morelli Buzzi, Questa, Pagarì, Remondino) machten mit. Den Auftrag als Säumer übernahm Luciano Ellena mit 6 seiner Mulis und brachte jeder Hütte einmal in der Woche eine Frischwarenlieferung. Er nahm jeweils 2 bis 3 seiner Saumtiere mit. So wurden die Tragtiere nur leicht belastet, und die anderen hatten durch diesen Schichtbetrieb ausreichend Ruhezeiten auf der Weide im Tal. Diese regelmäßige Tragtierversorgung der Schutzhütten mit frischen und regionalen Lebensmitteln brachte unter den erschwerten Bedingungen gravierender Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf den Bergtourismus eindeutige Vorteile. Den stark rückläufigen Übernachtungen in den Hütten stand ein exponentieller Anstieg an Tageswanderern mit entsprechender Nachfrage nach gehobener und gesunder Verköstigung gegenüber. Mit der regelmäßigen Lieferung kleinerer Mengen konnte den Bedürfnissen der Hütten angemessen entsprochen und besondere Nachfragen und Wünsche berücksichtigt werden. Nebenbei waren die Tiere auf dem Weg und auf den Hütten eine zusätzliche Attraktion für die Wanderer. Am Ende seiner Pause genießt Luciano noch einen Espresso. Paolo bringt Säcke mit dem Abfall der Woche und legt sie in die Tragkörbe. „Ciao, all‘ anno prossimo!“ Ketty, Kira und Dea haben vollgetankt und heben ihre Köpfe aus den Bergkräutern und folgen Luciano langsam talwärts. Sie kennen ihren Weg und brauchen keinen Führstrick. 40 bis zu 3,5-stündige Hüttenanstiege und über 90.000 Höhenmeter im An- und Abstieg hat Luciano nach diesem Sommer in seinen Beinen. Neben den 7 Hütten der Seealpen versorgte er noch 2 Hütten im Monvisogebiet (Quintino Sella und Alpetto). Diese nahmen sein Service auch ohne Fördermittel in Anspruch. Heute will er alle Mulis noch von der Talweide im Gesso-Tal nachhause auf die Herbstweiden seines Demeterhofes bringen. „All‘ anno prossimo!“ – ja im nächsten Jahr wird er wieder seiner Passion, der Arbeit mit Saumtieren, nachkommen können. Marco und Paolo und alle anderen Hüttenwirte haben ihm zugesagt, Ketty & Co. wieder zu engagieren – auch wenn es ohne Fördermittel teurer werden wird: „Als kleiner Beitrag zum Klimaschutz ist uns das wert!“ Ein Thema auch für Südtirol? Einer, der es gut beurteilen kann: Hermann Vantsch, langjähriger Wirt des Becherhauses (3.195 m, Stubaier Alpen), Hubschrauberpilot, begeisterter Freizeitsäumer und derzeit Wirt der Magdeburger Hütte (2.423 m, Pferschertal): „Ich gratuliere unseren italienischen Freunden in den Seealpen. Funktionieren kann dieses Projekt dort nur, weil ein bergbegeisterter Säumer gefunden wurde, der noch mit viel Feingefühl dieses alte Handwerk beherrscht. Im Vergleich zu den Seealpen sind die Zentralalpen eine reiche Region, die über Jahre hinweg vom Turbotourismus geprägt wurde. In Südtirol haben die meisten Hütten Materialseilbahnen und können flexibel mit Frischwaren versorgt werden. Für die wenigen Hütten mit Hubschrauberversorgung müssten wir erst Jemanden finden, der bereit wäre, diese sicher anspruchsvolle Arbeit zu machen, und sie auch beherrscht. Das Tragtier kann nur bei geringen Transportmengen mit dem Hubschrauber mithalten, falls auf frische Lebensmittel Wert gelegt wird. Der Bigbag wird bis vor die Tür des Lagerraums der Hütte geflogen. So leicht wird bei uns niemand auf diese wesentlich bequemere Belieferung mit Dauerwaren verzichten. Noch nicht! Erst wenn durch ein Umdenken des Klimas wegen, höhere Kosten akzeptiert werden und diese auch von unseren Gästen honoriert werden.“ Albert Schweizer, Treuemitglied der Sektion Frohnleiten, war langjähriges Vorstandsmitglied der Österreichischen Interessengemeinschaft Pferdekraft - ÖIPK und ist begeisterter, aktiver Freizeitsäumer.